Heilender Henker

Der Henker ist ein Mythos, dessen Wirklichkeit überrascht, denn er exekutierte nicht nur, sondern arbeitete als Wund- und Knochenheiler und verdiente an Leichenmedizin.

Körperstrafen des Mittelalters verliefen alles andere als willkürlich, denn sie stellten im Rechtsverständnis die göttliche Ordnung her. Das blutige Theater der Hinrichtung war zwar geeignet, Aggressionen der Masse abzubauen; die “Kunst des rechten Tötens“ folgte aber einem vorgeschriebenen Ritual. 

Pfusch, wenn ein Verurteilter an der Folter starb oder nach einer Amputation verblutete, führte schnell zum Berufsverbot, absichtlicher Verstoß gegen die Vorschriften zur Bestrafung.

Ein Scharfrichter, der beim Enthaupten daneben schlug, lief Gefahr, Lynchopfer der enttäuschten Volksmenge zu werden.

Deshalb gehörte das Heilen der durch Folter, Daumenschrauben, Verstümmeln, Blenden oder Brandmarken verursachten Wunden ebenso dazu wie das Strafen. 

Enthauptungen - freihändig zwischen zwei Halswirbeln mit dem Richtschwert - erforderten nicht nur Geschick, sondern Kenntnis der Anatomie, ebenso das Strecken auf der Streckbank und das  Einflechten der Verurteilen in ein Wagenrad.

 

Das Einschätzen der Foltertauglichkeit und damit eine „ärztliche“ Gesundheitsdiagnose unterlagen dem Urteil des Scharfrichters.

Im Unterschied zu den gelehrten Ärzten, denen das Öffnen des menschlichen Körpers verboten war, ging der Scharfrichter legal mit Leichen um.

Verwundete ließen sich in seinem Haus behandeln. Oftmals arbeitete er mit Salben, Heilölen und Pflastern, wendete Schröpfköpfe und Aderlass an, was belegt, dass er die damals "normale" Medizin praktizierte.

 

Heilkräuter wie Baldrian, Enzian und Wacholder bezog er vom Apotheker; die Besonderheit seiner „Heilkunst“ lag in der Verwendung von Menschenhaut und Menschenfett.

Im Unterschied zu den Hinrichtungen beteiligten sich die Frauen der Scharfrichter an der Heilpraxis und behandelten die Patienten.

 

Die Bedeutung des Scharfrichters als Heiler liegt sowohl an seinen realen Kenntnissen wie auch an der Verbindung zwischen Medizin und Zauber. Das Hinrichten entwickelte sich aus dem Menschenopfer an die Götter; Gegenstände des Todesrituals wie der Galgenstrick galten als magisch aufgeladen. Der Henker galt als verdächtig, die dämonischen Kräfte der Toten für schwarze Magie zu benutzen.

 

Blut sollte gegen Epilepsie und Lepra helfen und war als Essenz des Lebens von jeher wichtig: Schon im antiken Rom sammelten Bürger das Blut Enthaupteter zur Heilung dieser Übel. In der Medizinlehre entstanden Krankheiten durch ungleiche Verteilung der Körpersäfte. Blut war dem Jupiter zugeordnet, dem Herz und dem hitzigen Sanguiniker.  Die einzige Möglichkeit, sich Menschenblut legal zu beschaffen, war der Kauf beim Scharfrichter. 

 

Entwicklung des Arztberufes

Diese Zustände besserten sich allmählich im Laufe des Mittelalters. Die italienischen, französischen und schließlich auch die deutschen Universitäten begannen, die Heilkunst als Wissenschaft zu pflegen.

So studierten Laien mehr und mehr die Heilkunde und es entwickelte sich langsam der ärztliche Beruf.
Ebenso wichtig wie das Studium der Heilkunde war, dass die aufblühenden Städte ab dem 13. Jahrhundert das Heilwesen unter ihre Verantwortung nahmen. Dadurch wurde der Staat zu entsprechenden Schritten veranlasst, mit denen die Entwicklung der Heilkunde beaufsichtigt werden konnte. Auch die Apotheken, die ursprünglich in den Händen der Mönche lagen, wurden unter städtische und staatliche Kontrolle gebracht.
In diesem Zuge wurden auch in größeren Städten Spitäler mit fest angestellten Stadtärzten eingerichtet.

Damit hatte die Heilkunde zum ersten Mal einen eigens dafür spezialisierten Studienberuf hervorgebracht, die Ärzte.

 

Erst mit der weiteren Entwicklung der Medizin im 16. Jahrhundert und der gleichzeitig steigenden Bildung in der Bevölkerung begann die Entwicklung der Medizin hin zu unserem heutigen Stand.